VON JOHANNES NATHAN
Als es nach ersten Presseartikeln im Fall Gurlitt weithin an Experten mangelte, die die plötzlich drängenden Fragen zu beantworten vermochten, wurde rasch klar, dass die kunsthistorische Landkarte in diesen Bereichen – gemeint sind Provenienz- und Kunstmarktforschung – noch viele weiße Flecken aufweist. Zweifellos hätte die Veröffentlichung der Sammlung Gurlitt die Fachwelt weniger unerwartet und weniger heftig getroffen, wenn die Erforschung des Kunstmarktes und seiner Geschichte nicht über weite Strecken als nebensächlich eingestuft worden wäre – übrigens auch vom Autor dieser Zeilen, der seine erste Lehrtätigkeit ganz anderen Themen widmete und erst nach Übernahme der familiären Kunsthandlung die historische Dimension des Kunstmarkts zu ergründen begann.
Das Fach Kunstgeschichte hat den Blick auf den Markt lange gescheut. Die Tatsache, dass bildende Künstler meist in einem merkantilen Umfeld agierten und immer noch agieren, empfand man als Widerspruch zu den ideellen Werten, die ihren Werken zugeschrieben werden. Die Wirkungen des Kunstmarktes auf die Kunstgeschichte wurden daher über weite Strecken ausgeblendet, ein Umdenken fand erst im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts mit Erscheinen einiger bahnbrechender Studien – etwa von Francis Haskell oder Svetlana Alpers – statt. Seither befasst sich eine stetig wachsende Zahl von Publikationen mit der Geschichte von regionalen Märkten und einzelnen Marktakteuren; ein erster Höhepunkt dieser neuen Sichtweise war die große monographische Ausstellung, die das Metropolitan Museum in New York gemeinsam mit dem Art Institute in Chicago und dem Musée d’Orsay in Paris vor wenigen Jahren dem legendären Pariser Kunsthändler Ambroise Villard (1865– 1939) widmete.
Vollards Leben und Wirken fällt in die Epoche des französischen Impressionismus und Post-Impressionismus, deren Rezeption – darin ist sich die kunsthistorische Forschung längst einig – maßgeblich von herausragenden Galeristen mitbestimmt wurde. Weniger bekannt ist, dass der Kunsthandel auch zu anderen Zeiten und in anderen Ländern entscheidende Impulse zur Verbreitung neuer Ausdrucksformen gab und mit seinen weitgespannten Netzwerken überdies den immer größeren Hunger nach Kunst in Europa befeuerte. Der Handel mit Druckgrafik zum Beispiel fungierte über Jahrhunderte als überragendes Vehikel der Verbreitung von neuen Bildern und Stilrichtungen; oft war er auch Ausgangspunkt für die Nachfrage nach Gemälden, Skulpturen und Architektur. Angesichts einer wachsenden Bilderflut waren es nicht zuletzt Marktakteure wie der Pariser Kunsthändler Edme-François Gersaint (1694–1750; sein sog. »Ladenschild« von Watteau hängt heute im Berliner Schloss Charlottenburg), die den Sammlern von Druckgrafik Orientierungshilfen in Form von Katalogpublikationen und Werkverzeichnissen boten und damit zur Entstehung einer wissenschaftlichen Kunstgeschichte beitrugen.
Als sich die junge universitäre Kunstgeschichte im 19. Jahrhundert als gleichwertige Disziplin neben der viel älteren Geschichtswissenschaft zu etablieren suchte, war sie aus naheliegenden Gründen beflissen, ihre Verbindungen in die als unwissenschaftlich empfundene Welt des Handels aus dem Blickfeld zu rücken – und dies, obgleich der Austausch zwischen Kunstgeschichte und Kunstmarkt gerade auf dem Gebiet der Kennerschaft nie abgerissen, ja vielmehr bis heute fester Bestandteil der Grundlagenforschung bei der Sichtung des überlieferten Kulturgutes geblieben ist.
Vielleicht führte gerade die Tatsache, dass enge Verbindungen einzelner Kunsthistoriker zum Kunsthandel gerne verschwiegen wurden, zu gelegentlichen Missständen in diesem Bereich. Zu denken ist etwa an den hochbegabten aber schillernden Kenner der italienischen Renaissance Bernard Berenson (1865–1959), der über weite Strecken seiner Laufbahn eng mit dem überragenden Händler Joseph Duveen (1869–1939) zusammenarbeitete. Die daraus entstehende gegenseitige Abhängigkeit wurde nicht nur von den Involvierten sondern auch von der Nachwelt lange verschwiegen und erst gegen Ende des letzten Jahrhunderts begann die Forschung damit, die merkantilen Aspekte von Berensons Kennerschaft unter die Lupe zu nehmen, wobei frühe Veröffentlichungen zu diesem Thema von zum Teil heftigen Diskussionen begleitet wurden.
Solche Interdependenzen zwischen Handel und Wissenschaft bilden nur einen von vielen Themenbereichen, die sich für die weitere Recherche anbieten. Zunächst sollte sich die Forschung in diesem Feld allerdings besonders den Grundlagen zuwenden, und zwar weil die Materialien zur Geschichte des Kunstmarkts mangels Achtsamkeit vielerorts in alle Winde verstreut wurden, sofern sie nicht ganz verloren gingen. Zu denken ist hier nicht nur an die Archive der einzelnen Firmen und Marktakteure, sondern auch an deren kommerzielle Publikationen wie Auktions- und Ausstellungskataloge, die in den öffentlichen Bibliotheken meist nur sehr lückenhaft vorhanden sind und die unbedingt in einer zentralen Datenbank erfasst werden sollten. Ein vielversprechender Anfang hierzu wurde mit der Digitalisierung von Auktionskatalogen der Jahre 1930–1945 durch die Kunstbibliothek der SMB Berlin, die Universitätsbibliothek Heidelberg und das Getty Research Institute gemacht. Aktuell wird das Projekt auf die Jahre 1901–1929 ausgeweitet. Es gilt also, die vorhandenen Materialien in öffentlichen Institutionen weiterhin zu erschließen und die Eigentümer von Privatarchiven zu einer Öffnung derselben zu bewegen. Hilfestellung bieten hier etwa das – u. a. vom Bundesverband Deutscher Galerien geförderte – Zentralarchiv des Internationalen Kunsthandels in Köln oder das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg.
An den Universitäten ist in den letzten Jahren in Bezug auf die Erforschung des Marktes eine spürbare Aufbruchsstimmung zu beobachten. Vielleicht steht diese auch im Zusammenhang mit der Neustrukturierung der Studiengänge, denn der Wunsch nach praxisbezogener Lehre wird – auch seitens der Studierenden – immer häufiger geäußert. Noch werden direkt auf den Kunstmarkt und seine Geschichte ausgerichtete Lehrangebote allerdings gerne außerhalb des eigentlichen kunsthistorischen Curriculums angesiedelt, so etwa an der FU Berlin oder an der Universität Zürich, wo Studiengänge zum Kunstmarkt Teil eines Weiterbildungsangebots sind. Gleichzeitig besteht an vielen Instituten aber durchaus das Interesse, gezielte Lehrveranstaltungen zum Kunstmarkt und seiner Geschichte in den Lehrplan zu integrieren, sofern dies möglich ist – denn der Mangel an ausgewiesenen Lehrkräften auf diesem Gebiet setzt solchen Absichten noch enge Grenzen. An der TU Berlin wird mit dem Forum Kunst und Markt genau diesem Umstand Rechnung getragen, indem sich diese Forschungsplattform besonders an den Nachwuchs wendet. Derweil wurden an den Universitäten Düsseldorf und Köln jüngst Juniorprofessuren mit Schwerpunkt Kunstmarkt eingerichtet, während das Zentralinstitut für Kunstgeschichte in München einen Forschungsschwerpunkt der Geschichte des Kunsthandels widmet. Erfreulicherweise stößt das Thema auf ausgesprochene Resonanz, denn eine stetig steigende Zahl von Master-Arbeiten und Dissertationen befasst sich mit Themen, die sich direkt oder indirekt auf den Kunstmarkt beziehen.
Zu Recht sind im Zusammenhang mit dem Fall Gurlitt auch Rufe nach Lehrangeboten zur Provenienzforschung laut geworden, wobei dieses Feld aufs Engste mit dem Kunstmarkt verwoben ist, eine sinnvolle Ausbildung somit auch ein Verständnis der Abläufe im Kunstmarkt vermitteln sollte. Nicht nur hilft Hintergrundwissen zum Kunsthandel dabei, die Plausibilität unterschiedlicher Szenarien zum Besitzerwechsel einzelner Objekte besser einschätzen zu können; ein breiteres Verständnis der Marktströmungen liefert dem Provenienzforscher auch wichtige Indizien zur »Großwetterlage«, in der Verkäufe stattgefunden haben. Das Erarbeiten und Vermitteln des historischen Kontexts von Objektgeschichte gehört zur Kernkompetenz von Museen, und obwohl gewisse Institutionen auf dem Feld der Herkunftsforschung mit internen wie externen Schwierigkeiten zu kämpfen hatten – und zum Teil noch haben –, sind hier mittlerweile etliche zu herausragenden Kompetenzträgern geworden. In diesem Umfeld entstehen auch aussichtsreiche Ansätze für eine vertiefte Zusammenarbeit mit den Universitäten in Lehre und Forschung, etwa bei der Sichtung von Archivalien oder einzelnen Werkkomplexen im Zusammenhang mit Projektseminaren – Entwicklungen, die der Verband Deutscher Kunsthistoriker (VDK) in einer vor Kurzem zum Fall Gurlitt organisierten Veranstaltung erörtert und ermutigt hat (ein Mitschnitt findet sich auf der Homepage des VDK, http://www.kunsthistoriker.org). Es wäre höchst wünschenswert, wenn die öffentliche Hand gezielt Gelder für die Unterstützung solcher Initiativen im Einzelnen und für die Förderung der Kunstmarktforschung im Allgemeinen zur Verfügung stellte. Mit einer Stärkung dieses auch international erst wenig erschlossenen Feldes ließe sich aus der Not des Falles Gurlitt auch eine forschungspolitische Tugend machen.
Dieser Text erschien in Politik & Kultur 5/14