MUNDUS IMAGINALIS

VON GIANCARLO VIANELLO

In jüngster Zeit ist das künstlerische Schaffen in eine Phase der Banalisierung getreten, die in erster Linie auf Marktmechanismen, auf den Erfolgsdruck des Künstlers und auf seinen Narzissmus zurückzuführen ist. Kurz gesagt, der tiefere Sinn des Kunstschaffens scheint ganz allgemein verloren gegangen zu sein. Wir sollten uns deshalb in Erinnerung rufen, was unter dem, was wir „Kunst“ nennen, eigentlich zu verstehen ist.

Der Künstler kann erahnen und erkennen, was sich unter der alltäglichen Erscheinung verbirgt. Er ist nicht der einzige, der über diese Fähigkeit verfügt, aber nur er kann diese Einblicke darstellen und ihnen eine Form geben. Die Griechen bezeichneten Wahrheit mit dem Wort „a-letheia“, der Unverborgenheit. Für sie hatte Wahrheit die Bedeutung, etwas Verborgenes ans Licht zu bringen. Wenn der Künstler Bilder, Visionen und Formen hervorbringt, bewirkt er genau diese Offenlegung, er greift somit dem Denken voraus und lenkt es.

Der Erkenntnistheoretiker und Kunstkritiker Gaston Bachelard wies immer wieder auf die Wichtigkeit der rêverie, des Träumens mit offenen Augen, hin, das von Naturelementen und Bildern ausgeht, die wir uns in unserer frühesten Kindheit angeeignet haben. Dank dieses Verfahrens können wir, unabhängig von jeder künstlerischen Technik, Leitbilder schaffen und ihnen eine konkrete Form geben.

Diese Auffassung knüpft an das tiefenpsychologische Konzept der Archetypen an. Wie Jung und seine Schule bestätigt haben, drückt sich das Unbewusste, also der Teil, der uns weitestgehend bestimmt, in Bildern aus: vornehmlich in Träumen. Aber auch etwa in Zeichnungen Kranker schlagen sich eigene Archetypen und unbewusste Symbole nieder. Natürlich ist dieser Vorgang nicht auf die Pathologie beschränkt, wir alle bedienen uns dieses Verfahrens. Im Rahmen künstlerischer Tätigkeit jedoch kommt ihm eine grundsätzliche Bedeutung zu, die wir nicht aus den Augen verlieren sollten: Im Bild spiegelt sich in kondensierter Form die gesamte psychische Situation wider.

Jungs Konzept knüpft an die neuplatonische Tradition an, nach der der Aufstieg (ascensus) der Seele durch ihre Vorstellungskraft bewirkt wird, die ihren unbewussten Erinnerungen Form gibt. Die neuplatonische Spekulation kam hinsichtlich der Vorstellungskraft, also der Fähigkeit, Bilder zu erschaffen, im Neuplatonismus der italienischen Renaissance durch Marsilio Ficino zur Blüte. Letzterer hat in der italienischen und europäischen Kultur eine bahnbrechende Rolle gespielt, weil er die Aufmerksamkeit wieder auf die zentrale Bedeutung der Seele, des Innenlebens, gelenkt hat, in der alle Formen des Wissens zusammenkommen und wo die verschiedenen symbolischen Formen aufgenommen und verarbeitet werden. Die Wirklichkeit der Seele setzt sich hinsichtlich ihrer universellen Dimension nach Ficino aus drei Bestandteilen zusammen: dem Geist, dem Körper und der Vorstellung. Der Geist ermöglicht uns rationales Denken, der Körper verbindet uns mit der Gesamtheit der Natur, aber idola, die Vorstellungskraft, d.h. die Fähigkeit, Bilder zu schaffen, ermöglicht uns zu transzendieren, also die banale Realität zu überschreiten. Die Vorstellungskraft, eine Art Instinkt, leitet und führt uns: nicht anders als die archetypischen Bilder, die nach dem psychoanalytischen Ansatz Jungs in uns aufsteigen und die Art unseres Seins bestimmen. Die Bilder sind das Mittel, um sich von der bloß naturalistischen Wirklichkeit zu befreien und dem Individuum eine Bestimmung und eine Richtung zu verleihen. Über die Bilder unserer Psyche, so sagte Jung, erschaffen wir unseren Mythos.

Bei jeder künstlerischen Tätigkeit, gleich welcher Art oder Richtung, sollte man sich immer den generellen Sinn vor Augen halten, aus dem Bilder erschaffen und dem Betrachter zur Betrachtung angeboten werden. Der Künstler sollte ein Bewusstsein über die Wichtigkeit seiner Tätigkeit haben und erneut die Rolle übernehmen, die ihm zukommt.