VON WOLFGANG ULLRICH
Ein Schisma vollzieht sich in der Kunst: Werke für Kuratoren, die das Distinktions-bedürfnis der Diskurseliten, und Werke für den Markt, die das der Oligarchen befriedigen, spalten sich soweit ab, dass der gemeinsame Begriff Kunst nicht mehr zutrifft. Sicher wird das Schisma nicht so ablaufen, dass aus dem kalten Krieg ein heißer Krieg wird. Im Gegenteil hat man sich, je weiter man auseinanderdriftet, umso weniger zu sagen. Schließlich nimmt man sich gegenseitig kaum noch wahr.
Das nächste Superkunstjahr soll im Jahr 2027 stattfinden. Auch dann wird es wieder, wie alle zehn Jahre, gleichzeitig eine Documenta, eine Biennale in Venedig und Skulpturenprojekte in Münster geben, zudem natürlich eine Art Basel und zahllose weitere Messen, Biennalen und Events. Aber es scheint mir noch nicht sicher, ob man 2027 wieder von einem Superkunstjahr sprechen wird – so wie man es in diesem Jahr tut und wie man es vor zehn Jahren, 2007, tat. (1997, vor zwanzig Jahren, war dieser Begriff, wenn ich mich richtig erinnere, noch nicht gebräuchlich, er ist also ziemlich jung und unverbraucht.) Die Rede vom Superkunstjahr entstand, als die bildende Kunst es immer häufiger auf Titelseiten und in die Hauptnachrichten geschafft hatte und nicht länger nur eine Sache von Brancheninsidern war. Vielmehr sorgten der langanhaltende Boom auf dem Kunstmarkt sowie die immer noch größeren kuratorischen Großereignisse dafür, dass die bildende Kunst mehr und breitere Aufmerksamkeit als früher erhielt und überhaupt erst mit Attributen wie ’super‘ assoziiert werden konnte. Auf der Art Basel wurde in diesem Jahr nach Auskunft der Händler fast eine Milliarde Euro umgesetzt, und bei der Documenta hofft man, erstmals mehr als eine Million Besucher zählen zu können. Und ob es um einen Auktionsrekord für ein Gemälde oder um die fotogensten und schrillsten Werke einer Biennale geht: bildende Kunst ist ein Sujet der Massenmedien geworden; mittlerweile gibt es Starkünstler, Stargaleristen und Starkuratoren, Großsammler und Großausstellungen. Nur Großkritiker gibt es nicht.
Doch sind es genau diese Veränderungen, die bei mir Zweifel wecken, ob in zehn Jahren nochmals ein Superkunstjahr ausgerufen wird. Selbst und gerade wenn die Preise auf Großmessen noch höher und die kuratorischen Botschaften auf Großereignissen noch lauter und politischer als heute sein sollten, könnte es sein, dass niemand mehr ein Superkunstjahr erkennen kann. Und dies aus dem einfachen Grund, dass eine Documenta und eine Art Basel – allgemeiner: ein kuratorisches und ein kommerzielles Event – nicht mehr gleichermaßen als Kunstveranstaltungen wahrgenommen werden. Tatsächlich scheint mir vorstellbar, dass innerhalb der bildenden Kunst ein Schisma stattfindet, weil sich all das, was bisher noch unter ‚Kunst‘ gefasst werden konnte, immer weiter auseinanderentwickelt. Ein Schisma – das hieße, dass sich einzelne Teile des Kunstbetriebs abspalten, sich institutionell verselbständigen, sich nicht mehr miteinander verbinden lassen.
Schon jetzt zeugt es eher von Gewohnheit und Trägheit als von Sinnhaftigkeit, dass die in diesem Superkunstjahr in der Fondation Pinault in Venedig ausgestellten neuen Arbeiten von Damien Hirst – künstlich patinierte Bronzen, die antike Schätze simulieren und viel eher an Requisiten aus Fantasy-Filmen denn an etwas aus der Kunstgeschichte erinnern – genauso Kunst sein sollen wie Workshops für Flüchtlinge, die Olafur Eliasson als Biennale-Teilnehmer in derselben Stadt ausrichtet und in denen Lampen gebastelt und zusammen mit NGOs Vorträge und Diskussionen zu aktuellen Themen veranstaltet werden. Wer von außen auf beides blickt und die jeweiligen Entstehungsprozesse und Hintergründe analysiert, käme nie auf die Idee, es demselben Genre – und dann gerade noch Kunst – zuzuordnen.
Es gibt auch bereits etliche Statements, die später vielleicht einmal als Prophezeiungen eines Kunst-Schismas gewürdigt werden. So sieht Massimiliano Gioni, der 2013 selbst künstlerischer Leiter der Biennale in Venedig war, in der Hirst-Ausstellung sowie in der zeitgleich eröffneten Athener Ausgabe der Documenta „ein Musterbeispiel für das Auseinanderdriften der divergierenden Auffassungen von Kunst“. Diese charakterisiert er folgendermaßen: „Auf der einen Seite Celebrity Culture, Markt, visuelle Unterhaltung, auf der anderen eine Idee von Kunst als Politik und Engagement, die nicht ganz frei ist von einem Übermaß an Moralismus und Widersprüchen.“[1]
Voraussetzung für ein Schisma ist allerdings, dass jeweils einflussreiche Auffassungen von Kunst sich nicht nur stark voneinander unterscheiden, sondern dass das, was nach einer Auffassung große Kunst ist, nach einer anderen ausdrücklich keine Kunst ist. Dann kommt es im nächsten Schritt dazu, dass etwas allein deshalb, weil die einen es als Kunst begreifen, für die anderen keine Kunst mehr sein kann. Es ist dann nur eine Frage der Zeit, bis konträre Fraktionen sich entweder gegenseitig aus dem Kunstbetrieb auszuschließen versuchen oder bis eine Fraktion sich unter einem neuen Begriff sammelt oder sich zumindest nicht mehr darum schert, ob ihre Vertreter noch mit ‚Kunst‘ assoziiert werden.
Nach Tim Sommer, dem Chefredakteur des Kunstmagazins Art, zeichnet sich eine Konfliktsituation bereits ab. So stellt es für ihn einen „absurden Mechanismus des Kuratorenzeitalters“ dar, dass mittlerweile „kommerzieller Erfolg […] eher hinderlich“ für Künstler sei, die es auf eine Biennale oder Documenta schaffen wollen.[2] Sie gelten als korrumpiert, denn soweit sie eine marktaffine Siegermentalität besitzen, spricht man ihnen die Fähigkeit ab, sich in Minderheiten oder unterprivilegierte Milieus hineinversetzen und damit eine Kunst machen zu können, die den gesellschaftspolitischen Ansprüchen der meisten Kuratorinnen und Kuratoren genügt. Umgekehrt scheinen aber auch die Zeiten vorbei, als die Teilnahme an einer Documenta den Weg zu guten Galerien und großen Messen bahnte und fast zwangsläufig in Markterfolg mündete. Vielmehr werden bei etlichen kuratierten Events gezielt Künstlerinnen und Künstler bevorzugt, die mit Performances, partizipativen Projekten oder temporären Installationen arbeiten und gar keine kommodifizierbaren Werke im Angebot haben, als Optionen für Sammler und Anleger also von vornherein ausfallen.
Der Kunsttheoretiker und Kurator Robert Fleck sprach bereits 2013 ziemlich drastisch von einem „kalten Krieg„, der zwischen den Vertretern einer Kunstmarktkunst auf der einen Seite und den Repräsentanten der Welt der Biennalen sowie der Kunstvereine auf der anderen Seite herrsche.[3] Dass dieser Krieg nicht nur kalt ist, sondern auch still und kaum sichtbar stattfindet, dürfte vor allem dem konservativen Charakter von Institutionen zuzuschreiben sein. So widmen sich Magazine wie Art trotz Einsicht in das Auseinanderdriften und die Unvereinbarkeit verschiedener Kunstauffassungen weiterhin allem, was im Kunstbetrieb passiert. Viele Museen und Ausstellungshäuser versuchen ebenfalls, millionenschwere Kunstmarktstars genauso wie unkommerzielle Kunstaktivisten im Programm zu haben – sie fühlen sich für alle zuständig, die, wo auch immer, im Namen der Kunst halbwegs erfolgreich auftreten. Und Kunsthochschulen sortieren unter den Bewerbungen ebenfalls nicht von vornherein einzelne aus, nur weil sie ein bestimmtes Verständnis von Kunst erkennen lassen. Grundsätzlich kann man ebenso einen Studienplatz bekommen, wenn man angibt, man wolle mit der Kunst reich und berühmt werden, wie wenn man sich mit der Begründung bewirbt, man sei gegen den Kapitalismus und strebe an, mit den Mitteln der Kunst die Gesellschaft zu verändern.
Doch wie lange werden die Institutionen ihre Allvertretungsansprüche noch wahren können und wahren wollen? Was also sollte dafür sprechen, dass Kunsthochschulen auch weiterhin das gesamte Spektrum an Kunstauffassungen abdecken wollen und können? Tatsächlich werden sie vielleicht sogar die ersten Institutionen sein, in denen sich das Schisma der Kunst manifestiert. Da sie sich im Wettbewerb untereinander befinden, stehen sie ohnehin unter dem Druck, jeweils ein möglichst markantes, unverwechselbares Profil auszubilden. Was läge daher näher, als sich auf die eine oder andere Art von Kunst zu spezialisieren?
[1] Zit. n. Michael Hübl: „Melancholie der Muße und des Mitmachens. Kursorische Beobachtungen zum Stand der Kunst zwischen Partizipation und edler Gesinnung“; in: Kunstforum International 247 (2017), S. 74-85, hier S. 82.
[2] Tim Sommer: „Ein Leben wie gemalt“, in: db mobil 6/2017, S. 63-65, hier S. 65.
[3] Robert Fleck: Das Kunstsystem im 21. Jahrhundert. Museen, Künstler, Sammler, Galerien, Wien 2013, S. 21f.
Dieser Beitrag ist ein Auszug aus dem Essay „Zwischen Deko und Diskurs“ veröffentlicht in dem Kulturmagazin Perlentaucher