VON ELENA GAVRISCH
Ein ungezwungenes Gespräch mit einem ehemaligen Linksautonomen (Friedrich) im Schillerkiez Berlin-Neukölln über den Schimmelpilz und den Kapitalismus.

Friedrich: Metaphorisch kann der Schimmelpilz mit dem Kapitalismus Verglichen werden.
Elena: Warum das? Das eine ist ein biologischer Organismus, das andere ein Wirtschaftssystem. Wie passt das zusammen?
Doch beides erreicht ein Stadium, in dem es sich selbst reproduziert und erweitert, so dass der Kapitalismus eben nicht mehr nur die lokalen Bedingungen, sondern internationale Zusammenhänge bestimmt. Nehmen wir beispielsweise die neoliberalen Einflüsse in Griechenland oder auch in afrikanischen Ländern – da kann schon von einer Art ökonomischem Imperialismus gesprochen werden, durch den weltweit eine bestimmte Art des Wirtschaftens als Bestimmungsgröße vorausgesetzt wird. (Pause) Oder anders gesagt: Es gibt kein einziges Land mehr auf der Welt, das nicht kapitalistisch produziert, während in den 1960er Jahren noch unterschiedliche Handlungsalternativen existierten. Eigentum gilt weltweit als Grundlage der gesellschaftlichen Kooperation und Lohnarbeit wird dabei als Wert an sich und nicht mehr als eine zu überwindende Notwendigkeit angesehen. Mit dem Eigentum wird den Eigentümern eine potentielle Entscheidungsmacht übermittelt, über die sie in ihrem lokalen Umfeld die Produktion respektive die Nutzung über ihr Eigentum bestimmen und somit auch entscheiden, wer an dem Eigentum partizipieren kann. Eigentum tritt hier somit als Machtmittel auf, das die einen Menschen dazu veranlasst, arbeiten zu lassen, während andere arbeiten gehen müssen, um an dem Eigentum partizipieren zu können.
Es entstehen nicht nur zwei Gruppen von Eigentümern und Nichteigentümern, sondern auch eine gegenseitige Abhängigkeit. So wie der Schimmelpilz von der Feuchtigkeit im Mauerwerk abhängig ist, um wachsen zu können.
Ja. So ähnlich wie die gegenseitige Anhängigkeit von Käufer und Verkäufer, ein Verhältnis, das inzwischen zur Bestimmungsgröße, zu einem Wert an sich geworden ist …
… Du meinst also, die Menschen integrieren sich immer mehr freiwillig in die Verhältnisse. Und der kapitalistische Geist und seine, wie Du sagen würdest, Zwänge und Notwendigkeiten bieten ihnen einen entsprechenden Begründungszusammenhang. Das sehe ich nicht so, jeder Mensch handelt doch frei, das heisst, er hat die Möglichkeit, die Verhältnisse zu interpretieren und Einflüsse zu erkennen.
Ja, da hast du Recht, und bei vernünftigen Menschen würde das meiner Meinung nach auch zustimmen. Meiner Meinung nach hat sich da mit den kapitalistischen Prozessen so etwas entwickelt wie … ich würde es, um mit Adorno zu reden, als „verdinglichtes Bewusstsein“ beschreiben. Das heißt, die Menschen nehmen sich selber aus der Zustimmung zum Käufer-Verkäufer-Verhältnis als dinghaft, also als die Funktionäre des kapitalistischen Prozesses war. Der Kapitalismus ist schon soweit in ihre Psyche vorgedrungen das seine Grundprinzipien bei vielen Menschen – nicht allen – die Interpretation der Welt bestimmen. Zugleich sind sie mit so etwas wie einer „verwalteten Welt“ (lacht) auch so ein Terminus von Adorno – also einer Welt, die ganz im Sinne der Verkäuflichkeit organisiert ist, konfrontiert. Dadurch akzeptieren sie den funktionalistischen Umgang mit sich selber und behandeln auch die Umwelt danach. Also wenn wir mal die Situation bei dir im Schillerkiez nehmen. Da nistet sich so einer in einen gewachsenen Kiez ein aber nur unter der Prämisse, dass er weiß, das sich hier die Mieten weiter entwickeln, finanzkräftiges Klientel herziehen wird, kurzum, der Platz so scheiße Hipp werden wird, dass sich seine Investition lohnt. Sein handeln ist somit nur von der Verdinglichungslogik bestimmt und es entsteht (lacht), wieder Adorno, gesellschaftliche Kälte, das heißt, die Menschen sehen im Gegenüber nur noch die Projektionsfläche von Verkaufs- und Kaufsinteressen, ihre privaten Schicksale sind egal. Wenn einer nicht mehr in dieser Kategorie zu verbuchen ist, wird er / sie abgeschrieben. Das Interesse am Menschen ist zentral mit dem Interesse an der finanziellen Nachfrage verbunden. Das kapitalistische Verwertungsprinzip bzw. die Systematik von Eigentum, Geld und Lohnarbeit als Machtfaktor wirken somit wie ein Virus des Kapitalismus, der sich einmal individuell aber auch Weltweit ausbreitet.
Das ist Interessant, doch hätte ich jetzt kein Problem mit neuen Geschäften in meinem Kiez. Vor ein paar Wochen würden zwei Autos hier im Kiez angezündet, es wurde ein Akt der Gewalt gegen eine Geschäftskette verübt …
Da gilt es immer zu beachten, dass es auch Menschen gibt, die merken, dass sie mit einem Gegendiskurs das verdinglichte Bewusstsein als Herrschaftsdiskurs nicht durchbrechen können. Ich kann nachvollziehen, dass Menschen dann eine andere Form des Widerstandes wählen, auch wenn es für mich auf eine gesamtgesellschaftliche Veränderung, also auf die Überwindung des Widerspruchs von Arbeit und Kapital, die Überwindung des Zwangs zur Lohnarbeit z.B. durch technischen Fortschritt – also die Aufhebung der strukturellen Probleme durch die Wucherung des Kapitalismus, ankommt.
Aber es ist doch gerade die Technologisierung und die Rationalisierung, die Abhängigkeiten schaffen, so dass die Menschen unter das Diktat der Verwertung gestellt werden.
Das sehe ich nicht so. Technologisierung ist an sich nicht schlecht. Technik an sich verändert die Verhältnisse zum positiven, es erleichtert den Umgang, die Kommunikation etc., es ist nur das Prinzip, an dem es eingesetzt wird. Z.B. wenn ein Auto allein fährt, ist es positiv, da der Mensch sich nicht anzustrengen braucht. Allein das verdinglichte Bewusstsein, also wenn der Mensch denkt: ich müsste der Fahrer sein, ich müsste arbeiten, also wenn er sich aus einer funktionalistischen Interpretation betrachtet, führt das dazu, dass Rationalisierung als eine Bedrohung dieses Funktionalismus wahrgenommen wird. In der Produktion ist dieser komische Funktionalismus auch mit einem Proletenstolz – stolz darauf, eine Arbeitskraft zu sein –verbunden, was wiederum daraus resultiert, dass Lohnarbeit als ein Wert an sich gesehen wird. Umgekehrt ist es aber natürlich auch so, dass unter kapitalistischer Anwendung der technische Fortschritt die Taktung des Arbeitsalltages vorgibt und dass Rationalisierung real hier dazu beiträgt, dass Lohn als Mittel, um an der Gesellschaft teilzuhaben, dem Menschen entgeht. Das Scheißroblem ist aber hier nicht die Technik, sondern sind die Penner, die ihren Platz in der Gesellschaft nur als Arbeiter bzw. über ihren Funktionalismus bestimmen. Sie tragen so zu einer Integration der kapitalistischen Verhältnisse in den Alltag bei und sehen sich als Teil der produzierenden Masse und lassen aber keine Gelegenheit verstreichen, um sich in ihr affirmativ abzuheben.
Du meinst wahrscheinlich den Individualismus. Hier im Kiez haben wir zunehmend Kneipen, wo sich Hipster treffen, aber alle versuchen, so individuell wie möglich zu gelten.
Genau. Sie tragen ihre Verdinglichung nach Außen, alles wird nach seiner Verwertbarkeit betrachtet und dadurch werden antiquierte Stils wie der Punk-Look oder der Skater-Look wieder modern, um zu vermittelt, was für ein Trendsetter man ist. Aber auch andere Vorstellungen etablieren sich, z.B. während man früher die Toiletten „für umme“ nutzen konnte, so zahlt man heute 1 Euro und keine Sau regt sich auf, oder Menschen ziehen in günstige Gegenden, Stichwort Gentrifizierung, schon mit dem Bewusstsein, ihre Wohnung wieder mit Gewinn zu verkaufen. Wie ein Krebsgeschwür zieht sich der Kapitalimus durch den gesellschaftlichen Alltag, aber er produziert auch auf der Grundlage nationalistischer Interessen Armut in Afrika, oder arabischen Ländern.
Da fällt mir ein, und ich weiß nicht, ob du es wusstest, Schimmelpilzsporen oder auch Bakterien allgemein haben ja in einem bestimmten Umfeld absolute Bewegungsfreiheit. Und wenn man das nimmt, was du gesagt hast, dann trifft das ja in der globalisierten Welt auch auf Geld zu. Mikroskopisch klein, für das Menschenauge unsichtbar, so gelangen sie überall hin. Beim Geld ist das auch so, durch immer mehr elektronische Verwaltung ist es unsichtbar (Diese Aussage hört sich komisch an, vielleicht besser so: „durch die zunehmende Digitalisierung wird es auch unsichtbar“). Die Transaktionen finden in Hundertstelsekunden statt, durch die computerisierte Ökonomie wird die Organisation von ökonomischen Prozessen technokratisiert. Geld bewegt sich sehr frei, wie Schimmelpilzsporen oder Bakterien. Bei günstigen Bedienungen kann aus Sporen Schimmelpilz entstehen, eine Konzentration und starke Produktion von neuen Sporen, die sich immer weiter vermehren, als eine Ansammlung von einem schwarzen, bräunlichen, grauen oder grünen Belag z.B. an Wandecken sichtbar werden. An versteckten Plätzen und Ecken, wo die nahrhafte Nässe sich ansammeln kann, wachsen die Schimmelpopulationen. Kennst Du diesen Begriff „Algos“? Er kommt aus dem Börsianer-Slang und klingt für mich ähnlich wie „Algen“. Algos – die „Mikroorganismen“, die keiner sieht, deren Einfluss aber jeder so langsam zu spüren bekommt. Sie vermehren sich unaufhaltsam und befallen immer mehr “Gewässer“.
Ist es nicht so, dass im Stillgewässer die Algen das Ökosystem kippen können, wenn sie die Wasseroberfläche komplett bedecken? Ich würde dir aber insoweit zustimmen, dass die Algorithmen schon ein Teil dieses Krebses „Kapitalismus“ sind. Sie sind aus der Spekulationssucht entsprungen, immer schneller an mehr Gewinn zu kommen. Aus dem Grund sind sie nach meiner Meinung mehr als nur ein Symptom. Ich finde es bei deinem Projekt übrigens ganz gut, dass der Raum überall mit Schimmel bedeckt ist, das verbildlicht die Umhüllung des Menschen mit kapitalistischen Prinzipien ganz gut. Wir sehen ihn immer wieder, nehmen aber unseren privaten Zusammenhang nicht wahr. Doch ist es auch so, dass die Spekulation zwar den Krebs anreichert aber ihm auch potenziell den Sauerstoff bzw. die Möglichkeit der Erweiterung, der Entwicklung eindämmt. Ich denke da an die Krise von 2007 obwohl die Prinzipien ja heute genau so weitergehen wie damals.
Ja, ich glaube auch, die Algen brauchen den ganzen Sauerstoffvorrat im Wasser auf und größere Lebewesen, wie Fische, müssen an die Oberfläche, um Luft zu schnappen und können potenziell ersticken und aussterben.
… bzw. gefangen werden. Aber klar, nur bei Algos ist es dank ihrer nicht organischen, sondern menschengeschaffenen Natur so, dass sie sehr gezielt eingesetzt werden, um ähnliche Erstickungsprozesse in Gang zu setzen. Der Unterschied ist nur, dass die Algorithmen auf kleinste Entwicklungen reagieren.
Es wird mit Zahlen und Geschwindigkeiten gearbeitet, die in der Erfahrungswelt der Menschen nicht vorkommen! Die meisten von uns denken täglich in Kilometern pro Stunde, fahren relativ kurze Strecken von der Arbeit und zurück und laufen insgesamt einen halben oder einen ganzen Kilometer. Ein tiefer Atemzug dauert so lange, wie man in Lichtgeschwindigkeit von der Erde bis auf den Mond brauchen würde. Das ist die Form der Geschwindigkeit, die am menschlichen Körper nicht erfahrbar ist. Da kommt man sich vor als müsste man gegen Superman antreten, wenn man den Handel fair betreiben würde. Aber lass uns zu der anderen Pflanze zurückkehren, zum Schimmelpilz. Ich habe die Bilder der Schimmelsporen unter dem Mikroskop gesehen, sie sehen wie seltsame Planeten aus. So hätte ich sie mir niemals vorstellen können. Du schaust hin und es ist nichts da, dann holst du ein Mikroskop und es sind Welten. Zugleich entwickelt sich der Schimmel und du denkst, du kannst ihn nicht aufhalten. Genau wie beim Kapitalismus. Der Mensch steht völlig ohnmächtig dieser unaufhaltsamen Computerisierung, den spekulierenden Maschinen gegenüber…
Vergiss es, du kannst jedes Mittel einsetzen, um den Schimmel zu töten, du musst halt die Mauern austrocknen. Eine feuchte Lücke, und so bilden sich immer neue Stellen…
Wie der Schimmelpilz plötzlich auftaucht ist mir aber trotzdem nicht klar. Er ist zum größten Teil unsichtbar und erst, wenn die Bedienungen stimmen, blüht er auf und streut seine Sporen weiter. Tausendfach vergrößert sehen die Schimmelpilze wie exotische, schöne Gewächse und außerirdische Gärten aus, wie ein außerirdischer Wald. Die Sporen selbst sehen unter dem Mikroskop wie Planeten aus. Meine Mutter ekelt sich vorm Schimmel. Sie arbeitet 44 Stunden in der Woche in einem schweizer Betrieb, und wenn sie nach Hause kommt, will sie es sauber haben. Sie sagt der Schimmelpilz wäre nicht gut für die Gesundheit. Sie sagt, wenn der Schimmel einmal in der Wohnung ist, kann man ihn nicht mehr loswerden, „Vergiss es“!