VON MICHAEL HAERDTER
Einige Anmerkungen
Die Gedanken sind frei. Genauer: Sie müssen frei sein, um in der – milde gesagt – unübersichtlichen Provinz der zeitgenössischen Künste Fehlentwicklungen und Strukturen aufzudecken und daraus einige Prinzipien und Zielvorgaben abzuleiten. Über das Nahziel hinaus ist also ein neues Nach-Denken über den Ist-Zustand der sogenannten Kunst, und über die Soll-Perspektive einer Kunst, die diesen Namen verdient, in der Tat sinnvoll und notwendig. Es geht ums Eingemachte, ums Grundsätzliche.
Eine Bestandsaufnahme in gebotener Kürze: Der Ist-Zustand der sogenannten Kunst ist höchst fragwürdig. Ich sage sogenannt, weil sie sich einem ihr fremden Herrn unterworfen hat: dem Kunstbetrieb. Ihm hat sie geopfert, was ihr genuiner Wert war und bleiben soll – ihre Mission. Der Betrieb verfälscht sie zu billigem Ersatz – zu Beliebigkeit und falschem Schein, zu Extravaganz oder Gefälligkeit, kurz, zu stetem Kleiderwechsel, um ihren Unterhaltungs- und Verkaufswert zu steigern. Sie hat ihre Seele verkauft. Einem Mephisto, der seinerseits – was die Lage erheblich verschlimmert – einem weit mächtigeren, weil allgegenwärtigen Dämon dient – dem Turbokapitalismus, der Gier, der Spekulation mit der zur Ware degradierten Kunst zu dem einen schnöden Zweck der Vermehrung des Kapitals, dem Werte Schall und Rauch sind. Soviel zu einigen Fehlleistungen des Betriebs.
Mit welchem Kapital soll die wahre Kunst – der unser Interesse gilt – wirken, was ist ihre Mission? Sie bekennt und orientiert sich, kurz gesagt, an den soliden Werten der europäischen Aufklärung. Es ist eine Binsenwahrheit, die aus tausend Mündern und Medien schallt und Widerhall bei einer zunehmenden Zahl von Zeitgenossen findet: Unsere Gesellschaften sind krank. Sie leiden an Trugschlüssen und Übeln, die ihnen – soweit nicht evolutionär bedingt – vom Fortschritts- und Wachstumswahn, von der grenzenlosen Kommerzialisierung, von der schonungslosen Ausbeutung aller Ressourcen, von der hemmungslosen Konsumption, et cetera, einer überspannten Industriemoderne eingebrockt wurden. Die Erosion der Europäischen Union, die Not der zahllosen Flüchtlinge aus den Krisenregionen der Welt, die bedrohliche Zunahme rechtspopulistischer Bewegungen verschärfen die Lage zusätzlich. Gefährliche Plagen, die den Aufklärern alter Schule noch keine Kopfschmerzen beschert haben – im aktuellen massengesellschaftlich-globalen Maßstab aber stellen sie unsere eigentliche Herausforderung dar. Was können Kunst und Künstler dagegen ausrichten, über welche Waffen verfügen sie? Zyniker greifen gerne auf die bequeme, die billige Behauptung zurück, jede Gesellschaft bringe eben die Kunst hervor, die sie verdiene. Ganz falsch ist sie leider nicht. Gäbe es nicht die wahre Kunst. Ihr Aktionsfeld ist die Lebenswelt. Der Epochenwandel, dem wir seit geraumer Zeit ausgesetzt sind, könnte die Chance zur überfälligen Revision der lebensweltlichen Verhältnisse ermöglichen – eine Aufgabe, der sich auch Künstler zu stellen haben.
Um Missverständnissen vorzubeugen: Es geht nicht – in erster Linie – um die Kunst. Gefordert sind unsere Gesellschaften: Wir alle sind es, die in den Ring steigen und für unsere wahren Werte kämpfen müssen. Wir haben es damit zu tun, das alles zur Ware wird, von den Früchten und Schätzen der Erde bis hin zu den Menschen – Fußballer, Sex und Prostitution inklusive. Wir können nur hoffen, dass unsere Allianzen vor den mächtigen Gegnern nicht kneifen. Dass die soziopolitischen Selbstheilungskräfte in der Lage sein werden, die Oberhand zu gewinnen. Von unseren treuen Mitstreitern, den Künstlern, dürfen wir dabei nicht mehr erwarten als wohl bedachte Unterstützung und beherzte Anfeuerung. Das ist eine keineswegs geringe Leistung! Jedenfalls sofern wir im Auge behalten, dass unsere Mitstreiter – bei aller Unabhängigkeit, die der schöne Beruf von ihnen verlangt – Mitfahrer oder Beifahrer einer kollektiven Fahrt in eine ungewisse Zukunft sind und sein wollen. Mit anderen Worten: Dienstleister für die gemeinsame Aufgabe auf den tausend Baustellen der Welt.
Das Institut für Neues künstlerisches Denken beruft sich auf ein bedeutendes Vorbild – das von George Soros gegründete Institute for New Economic Thinking (INET). In unserem Kontext macht es Sinn, daran zu erinnern. Denn diese Verbindung beleuchtet sehr gut das Verhältnis von Kunst und Gesellschaft, um das es uns geht. Soros nennt sich selbst einen politischen Philanthropen. Er ist ein kämpferischer Aufklärer, der sein beträchtliches Vermögen und sein umfassendes Know-how für die Werte und Prinzipien einer Open Society ins Feld führt. Die Offene Gesellschaft ist eines der wahren, zukunftsträchtigen Werte und Ziele, für die es sich zu kämpfen lohnt. Eben das tut Soros dank seiner zahlreichen Gründungen und Projekte als unermüdlich tätiger Ratgeber. Die notleidende EU ist eine der prominenten Baustellen, für die er sich einsetzt. Er sieht sie on the verge of collapse. Also muss ihr geholfen werden, ihr, die anstelle der einst kriegslüsternen, überalterten Nationalstaaten eine offene, friedliche Gesellschaft eines künftigen Europas schaffen soll und will. Kann das unter den vorherrschenden Umständen gelingen? Soros glaubt daran. Im Grunde seines Herzens ist er ein Optimist. Hören wir ihn selbst. Recognizing a problem is an invitation to do something about it. … We have the capacity to destroy our civilization and we are well on the way to doing so. … I trained myself to look at the dark side. (But) I don’t give up. In danger lies opportunity. It’s always darkest before dawn. ([1])
Klingt das nicht auch für Sie, verehrte Leserinnen und Leser, als plauderte hier ein Künstler aus dem Nähkästchen? Nota bene ein kritischer und unabhängiger, ein dienstleistender Künstler, ein zoon politikon. Also ein naher Verwandter von George Soros.
Blicken wir zurück. Um 1900 brachen Künstler in ihre Neuzeit auf. Alles sollte sich verändern, nicht nur die Kunst. Was sie ihre Neue Kunst nannten, war der Bruch mit den Mentalitäten der Kaiserzeit und der Belle Epoque, mit der angeblich guten alten Zeit, ihrem juste milieu, ihrem Chauvinismus. Ihre Künste sind Ausdruck einer neuen Gesinnung – Expressionisten und Kubisten, Futuristen und Surrealisten setzen sich für ein alternatives Welt- und Menschenbild ein. Es geht ihnen um nichts Geringeres als eine Revolution: kosmopolitisch denkende und handelnde Zeitgenossen auf den Barrikaden für eine bessere Welt – mit den Mitteln, mit den Waffen der Kunst.
Mit Erfolg? Mitnichten! Nicht im Sinne dieser wenigen streitbaren Außenseiter, deren Ideen und Künste von der Vielzahl braver Bürger ihrer Zeit verachtet oder verlacht wurden. Ihre Kinder und Kindeskinder aber, sofern auch sie zu Geld gekommen sind, blättern nur zu gerne Höchstpreise hin für den Besitz von Werken ihrer einst bescheiden existierenden Macher – die zur klassischen Moderne mutierten Bilder sind als Kapitalanlage oder zu wertsteigernder Spekulation heiß begehrt. Also doch ein später, wenngleich ungewollter Erfolg? Vielmehr der ewige Kreislauf der Begierden und Ängste, der Taten und Untaten der unvollkommenen Menschheit. Die Katze beißt sich, mal wieder, in den eigenen Schwanz.
Wo Gefahr ist, da wächst das Rettende auch – das hoffte einst Hölderlin. Der Optimismus eines George Soros hat Tradition. Aus gutem Grund. So zweifelhaft Menschenwerk auch ist – es gab und gibt das Licht am Ende des Tunnels. Im Chaos unserer Welt im Umbruch zeigen sich da und dort Zeichen der Hoffnung.
Kaum mehr als die Hälfte des – betagten – britischen Wahlvolks folgte den falschen Versprechungen einiger zynischer Egotripper, die glorious old days der Weltmacht Great Britain kehrten mit dem BREXIT auf wunderbare Weise zurück. Die insulare Jugend aber stimmte mit großer Mehrheit für ihre europäische Zukunft, dito die Schotten und Nordiren. Der Nonsens dieser Wahl könnte immerhin im realen Vollzug nicht nur ein Small Britain zur Folge haben, vielmehr den Anstoß geben zur notwendigen Reform und Vertiefung der EU. Nähme man diese Chance wahr (worauf zu hoffen wohl noch immer vergeblich sein wird) – welch eine Wohltat wäre es!
Die heurige Architektur-Biennale zu Venedig gewährt erstmals einem internationalen Team von Baukünstlern Vortritt, die sich mit Geschmack und kluger Stadtplanung für eine ökologische, nachhaltige und soziale Architektur stark machen. Erleben wir den Advent einer neuen Bescheidenheit und den Abschied der Stararchitekten?
Mit dieser Generation aufgeklärter Architekten sind wir wieder bei der wahren Kunst. Im Kraftfeld der – pluralisch wahrzunehmenden – Künste beobachten wir seit langem eine Weiterentwicklung von atemberaubender Dimension. Dass die dominante Westkunst von der Weltkunst abgelöste wurde, ist kein Thema mehr. Auch vom einst sakrosankten Werkbegriff ist keine Rede mehr – von Malerei und Bildhauerei und ihrer alten Sehnsucht auf ewige Stilllegung im Museum. Doch Kants Ästhetik hatte starke Wirkung, nicht nur hierzulande. Die Renaissance stand Pate bei seinem berühmten Diktum: Schöne Kunst ist die Kunst des Genies ([2]). Der Kult der Kunst war die Folge, die Heiligsprechung des Künstlers, seine Verehrung als Hohepriester einer gottgleichen Extraklasse, erhaben über den Alltag des schlichten Volks. Der Scheitelpunkt dieses Irrwegs war, genau genommen, erst mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs erreicht.
Die Befreiung vom Wahnsinn der Nazidiktatur, die allzu lange herbeigesehnte Öffnung zur Welt – sie wirkten wie ein Dammbruch, auch in den Künsten. Vertriebenen Avantgarden winkte die Rückkehr aus dem Exil. Der physischen Grenzüberschreitung folgte die mentale: zwischen den Künsten; zwischen den Vereinzelten, bereit sich zu zielbewussten Kollektiven zu verbinden; zwischen den kognitiven und künstlerischen Feldern; zwischen Kunst und Leben. Dass Kunst eine Lebenserscheinung sei, das hatte der Kunstpsychologe Wilhelm Worringer vor hundert Jahren versichert, nun trafen seine Thesen auf offene Ohren. Sage mir wie viel Welt du in dir hast, und ich sage dir, wie viel Künstler du bist. ([3]) Vergessen wir nicht – auch der Existenzialismus findet erst jetzt eine breitere Öffentlichkeit, den verdienten Diskurs: die Philosophie der Immanenz, des In-der-Welt-seins des Menschen, seiner Vertrautheit mit, seiner Sorge um die Dinge der Lebenswelt – ein von Husserl geprägter Begriff. Mit trotziger Skepsis den Realien zu begegnen, das wünschte Albert Camus von uns in seiner Lebenslehre vom Absurden.
An Ermutigung fehlte es den zahlreichen Mittlern und Dienstleistern also nicht auf ihrem Langen Marsch zur Wahrnehmung und Spiegelung, zur Änderung und Optimierung der bestehenden, besonderen und allgemeinen Verhältnisse unseres Daseins. Die Vielzahl der Macher verbietet ihre Aufzählung, die Vielfalt der Medien nicht minder. Dass alles machbar ist, ergo gedacht wird – damit müssen wir leben. Nicht aber: es hinnehmen, es dulden. Vielfalt fordert die eigene wohlbegründete Meinung. Neben neueren Praktiken – von der Rauminstallation und situativen Kunst, über performance art und Videokunst, bis hin zur relational und eat art, hin zur wirklichkeitsscheuen virtual reality, etc. – haben die ‚klassischen‘ Künste nicht ausgedient. Auch das Schöne hat den Einzug in die Postmoderne überlebt. Freilich in neuem Gewand: als ein wie immer starker Faktor künstlerischer Wirkung. Doch nicht um seiner selbst willen. Handwerkliches Können im Bund mit Wissen, beherrschte Form in der Anwendung zum guten Zweck muss Eleganz nicht ausschliessen. Wahre Kunst ist wandlungsfähig und hat viele Gesichter. Das teilt sie, versteht sich, mit dem Menschen in unserer Welt in stetem Wandel.
Welche Kunst braucht unsere Zeit, brauchen unsere Gesellschaften? Gibt es überhaupt noch ein vitales Verlangen nach Kunst? Wir sind allenthalben mit Auflösungserscheinungen konfrontiert, klare Maßstäbe und Standpunkte, eindeutige Definitionen haben offenbar ihre Zeit gehabt. In den Künsten beobachten wir ein Ausufern, ein Verströmen in diverse lebensweltliche Bereiche. Eine beliebte Variante: die Relational oder Convivial Ästhetik, eine Schwester der betagten Lebenskunst. Sie beschränkt sich z.B. darauf, Gäste zu bekochen und ihnen ein paar gute Stunden mit dem ‚Künstler-Koch’ zu bescheren. Ist das mehr als ein alternativer Elfenbeinturm – als Eskapismus? In einer Welt, die gnadenlos, verrückt und absurd ist, mit der wir auf eine Katastrophe zusteuern (so der in Berlin lebende und lehrende Philosoph Byung-Chul Han in Interviews, September 2014), erwarten wir von unserem denkenden Künstler verantwortliches Handeln. Han sagt auch: Denken ist immer eine Form des Widerstands – um dem Leben zu dienen.
Kritische Stimmen kluger Geister sind der basso ostinato in der abendländischen Geschichte. Ist die Kunst ein verlogener Luxus? – fragte Albert Camus vor einem halben Jahrhundert (in Schweden vortragend anlässlich der Verleihung des Nobelpreises). Eine keineswegs rhetorische Frage: Wir leben in einer Gesellschaft der Händler, einer künstlichen Gesellschaft, in der die leibliche Wahrheit des Menschen genasführt wird. Wo nur der Geldwert herrscht und alles zur Ware wird, die Kunst nicht ausgenommen, habe sich der Künstler mit seiner Verantwortungslosigkeit abgefunden. Die Folge: rein formale Salonkunst, l’art pour l’art. Auch Camus fordert vom Künstler den Mut zum Widerstand gegen die Diktatur der Märkte – denn das Geheimnis des Lebens ist eins mit dem Geheimnis der Kunst. Ist das nicht von höchster Aktualität? Das gilt, meine ich, für Sisyphos nicht weniger, den Camus in unsere absurde Welt zurückgeholt hat: als Beispiel eines Zeitgenossen, der trotz allem nicht aufgibt, der unverdrossen kämpft, könnte der felsenwälzende Held unserem lebensweltlichen Künstler ein Vorbild sein.
Eine uralte Weisheit des Gnostikers Valentinus verhilft mir zu einem skeptischen Schluss: Es gibt zwei Grundarten von Engeln. Die einen halfen dem Menschen von Anfang an, die Erde wohnlich einzurichten. Die andern hinderten ihn daran. Die Menschheit ist noch lange nicht reif genug, damit man vor ihr enthülle, welche von diesen Engeln die guten sind und welche die bösen. ([4])
[1] “The EU is on the Verge of Collapse” – An Interview, George Soros and Gregor Peter Schmitz, The New York Review of Books, February 11, 2016 Issue.
[2] Immanuel Kant, “Kritik der ästhetischen Urteilskraft”.
[3] Wilhelm Worringer, „ Abstraktion und Einfühlung – Ein Beitrag zur Stilpsychologie“, erstveröffentlicht in München 1908
[4] Aus dem „Syntagma“ des Hippolytus um 170 u.Z.