VON REINIGUNGSGESELLSCHAFT
Die Urbanisierung in Deutschland, also die Bedeutung der Kernstadt als Lebensraum, hat in den vergangenen Jahren weiter zugenommen.[1] Die wohlhabenden Nationen Nordamerikas, Europas, Australien, Ozeaniens, Japans, die noch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts ländlich strukturiert waren, weisen heute eine städtische Bevölkerung von 72 – 95 % auf.[2] Die Stadt bietet Raum für unterschiedliche Lebensentwürfe und berufliche Perspektiven.
Begleitet wird dieser Run auf die Stadt vom Strukturwandel der Arbeitsgesellschaft, die Tertiärisierung und Auflösung der Normalarbeitsverhältnisse. Die Stadt wird zum gesellschaftlichen Handlungsraum für flexibel Arbeitende, Jobnomaden und Geringverdiener für die sich die Bezeichnung kreatives Prekariat herausgebildet hat. Eine besondere Gruppe der schöpferisch Unsicheren sind die freiberuflichen Akteure des Kunst- und Kulturbereiches. Ihnen wird gesellschaftlich zugestanden, urbane Lebensräume auf eigene Weise in Orte der Interaktion, der Präsentation und der Selbstverwirklichung verwandeln zu können. Die Arbeitsfelder in diesen künstlerischen Bereichen sind ausdifferenziert und interdisziplinär. Kreative Akteure werden in vielen Kommunen herbeigesehnt, aber stoßen schnell an die Grenzen eines kreativwirtschaftlich vorgegebenen Rahmens. Auf welche Weise lassen sich die Grenzen dieses Handlungsraumes hinterfragen und verändern?
Eine wachsende Anzahl von Menschen entscheidet sich dafür, in kreativ-künstlerischen Berufen zu arbeiten[3] trotz der Existenzrisiken, die ein Leben zwischen Selbstbehauptung und Selbstverwirklichung mit sich bringt. Dies führt auch zu einem wachsenden strukturellen Konflikt, da die Einkommenschancen sich kaum erhöhen und öffentliche und institutionelle Förderinstrumente mit der fortschreitenden Ausdifferenzierung künstlerischer Berufe nicht Schritt halten. Diese Umstände verdienen eine nähere, kritische Betrachtung. KünstlerInnen leisten in vielen Fällen durch Besiedelung und Umnutzung brachliegender Areale messbare Beiträge zu urbanen Revitalisierungsprozessen. Über diese Pionierfunktion hinaus gibt es eine wachsende Zahl von Beispielen für künstlerische, kommunikative und gemeinschaftsbildende Beiträge zur Quartiersentwicklung.[4] Die Aufwertung ganzer Stadtgebiete durch prekäre Idealisten aus dem Kunst- und Kulturbereich mündet fast zwangsläufig in einen kapitalgebundenen Verdrängungsmechanismus. Steigende Preise und Segregation kennzeichnen das Schema der Gentrifizierung, das Bewohner mit niedrigen Einkommen und kulturelle Akteure der urbanen Wiederbelebung zu Verlierern macht. Die Ursachen sind vielschichtig. KünstlerInnen nutzen oft Freiräume, die kaum ökonomische Verwertungsmöglichkeiten bieten, da sie auf Zwischennutzungen und niedrigen Investitionen beruhen. Auch sind die Akteure nur unzureichend in Gremien vertreten, die auf kulturelle, soziale und ökonomische Entscheidungen Einfluss nehmen. Kulturschaffende sind in der Regel Einzelkämpfer, deren Handeln individuell bestimmt ist. Eine aktuelle Frage lautet also, wie KünstlerInnen stärker in Entscheidungsprozesse der Struktur- und Quartiersentwicklung eingebunden werden können. In Bereichen, wo der politische Einflussbereich schwindet und die Kräfte des freien Marktes Schneisen in gewachsene Sozialstrukturen schlagen, ist ein verantwortungsvoller und langfristiger Umgang unter Einbeziehung aller zivilgesellschaftlichen Akteure notwendig. Eine Neukonstituierung von Entscheidungsgremien nicht nur im Bereich Stadt- und Quartiersentwicklung unter Einbeziehung von Kulturakteuren ist notwendig, um differenziertere Ergebnisse und einen sensibleren und ganzheitlicheren Umgang mit Veränderungsprozessen zu erreichen. Durch temporäre Allianzen können lokale Lösungen partizipativ und interdisziplinär erarbeitet werden, die durch künstlerische Methoden zukunftsweisend Teilhabe und Mitgestaltungsmöglichkeiten aufzeigen.
Die Projektgruppe REINIGUNGSGESELLSCHAFT macht Widersprüche des urbanen Strukturwandels zum Inhalt ihrer Arbeit. In künstlerischen Community Building Projekten werden weltweit in städtischen und ländlichen Gebieten unterschiedliche Akteure in Zukunftsdiskurse einbezogen. Dabei ist es wichtig, ein Bewusstsein für nachhaltige Lebensstile zu entwickeln. Infrastrukturelle, soziale, kulturelle, ökologische und ökonomische Belange, die von Wechselbeziehungen und Abhängigkeiten geprägt sind, werden dabei als Gesamtheit betrachtet,. Hierarchien werden durch gemeinsame Lern- und Erkenntnisprozesse abgebaut und verbindende Potentiale erkannt. RG bezieht als Impulsgeber zivile Gruppen in einen offenen Gestaltungsprozess ein. Kunst wird dabei als Katalysator für gesellschaftliche Prozesse definiert. Eine nachhaltige Entwicklung ist dann möglich, wenn die am Prozess Beteiligten als Akteure Verantwortung übernehmen.
Wenn von städtischen Freiräumen gesprochen wird, entsteht die Frage, wie frei diese Räume in der Tat sind. Postindustrielle Brachen z.B. in Leipzig, Berlin Schöneweide, im Ruhrgebiet oder anderswo sind keine weißen Flecken, auf denen sich KünstlerInnen, Kreative und Investoren nach Belieben ausleben können. Jede noch so öde urbane Leere ist eingesponnen in ein Geflecht von Beziehungen zu ihrer Umgebung und ihrer Geschichte, die sich nicht in jedem Fall mit der Logik des Kommerziellen decken. Diese oft unsichtbaren Codierungen und Determinierungen erlangen eine besondere Bedeutung, wenn es um die angemessene Entwicklung städtischer Areale geht. Reine Zweckplanung nach Marktgesetzen reicht nicht aus, um Orten gerecht zu werden.
Zu den zentralen Merkmalen städtischer Räume gehören deren Dichte und Durchlässigkeit.[5] Der Motor urbaner Entwicklung sind ausgleichende Bevölkerungswanderungen aus dicht besiedelten Quartieren mit steigenden Preisen in weniger preisintensive Gebiete. Insbesondere die Gruppe der flexiblen, oft prekären städtischen Kreativen und ihre Suche nach Wirkungsräumen und Existenzchancen erfüllt hier eine Scoutfunktion. Dabei spielen informelle Formen der Aneignung städtischer Räume, wie Besetzungen und temporäre Nutzungen eine besondere, auch wertsteigernde Rolle. Die zunehmende urbane Dichte in ehemals leerstehenden Gebieten und nicht reguliertes Wachstum bringt eine neue soziale Dichte mit sich.[6] Informell erschlossene städtische Räume werden auf diese Weise attraktiver und entwickeln zunehmend kommerzielle Potenziale. An diesem Punkt der Entwicklung stellt sich die entscheidende Frage, wie die ursprünglichen Akteure an der folgenden Konsolidierungsphase beteiligt werden. Die Logik des Besitzes marginalisiert die oft jugendlichen, kreativen Akteure, welche vertrieben werden, während sich Eigentümer über die Wertsteigerung ihres Areals freuen können.[7]
Der Begriff Gentrifizierung ist zur Bezeichnung für die negativ und ungerecht empfundenen Aspekte des städtischen Wandels geworden. Dabei sind zunehmender Wohlstand in städtischen Quartieren, urbane Dichte und erhöhte Lebensqualität eigentlich wünschenswerte Erscheinungen. Im Kongo gibt es beispielsweise ein provokativ benanntes „Gentrifizierungsprogramm“, welches die Sehnsucht benachteiligter Menschen nach Teilhabe und Wohlstand zum Ausdruck bringt[8]. Einen ähnlichen Anspruch auf mehr Gerechtigkeit und weniger Benachteiligung stellen westlich, prekäre Gentrifizierungsgegner, z.B. der Occupy Bewegung. Die entscheidende Aufgabe ist also nicht, städtischen Wandel zu verhindern, sondern ihn so zu gestalten, dass Bewohner aller Schichten und Milieus davon profitieren. Wir verwenden dafür den Begriff Die Stadt der Chancengleichheit, der ein Gemeinwesen beschreibt, das verschiedensten Gruppen und Einkommensschichten Möglichkeiten bietet, ihr Umfeld zu kontrollieren und aktiv zu gestalten.
Damit verbunden ist die Frage der Glaubwürdigkeit städtischer Lebensräume. Urbane Integrität meint vielfältige Lebenschancen, Möglichkeiten der Mitbestimmung und das Gefühl, bei den Kosten für Wohnen, Arbeit und Mobilität fair behandelt zu werden. Sie wird in zunehmendem Maße zum Indikator dafür, wie attraktiv städtische Quartiere sind.
Bei der Betrachtung der Beziehungen zwischen städtischen Räumen und der Rolle des kreativen Prekariats bietet es sich an, Vergleiche anzustellen zwischen bevorzugten Arbeitsweisen künstlerischer und kultureller Akteure und dem Charakter des städtischen Umfeldes. Bilden sich Strukturen für offene, prozessorientierte Vorgehensweisen ausreichend in zeitgenössischer Raumorganisation ab? Betrachtet man die öffentlichen Räume einer Stadt als einen Projektraum, erscheint das Assoziationsfeld der Open City[9], der offenen Stadt, welche ähnlich wie die Architektur digitaler Programme im Open Source Modus entwickelt wird. Der Vergleich schafft Möglichkeiten, die integrierende und partizipative Rolle des öffentlichen Raumes neu zu denken. Zu diskutieren wäre die Rolle des Kommerziellen, welche Open Source Modelle in vielen Fällen behindert. Die Logik der Rendite trägt nicht nur fortschreitend zur Privatisierung öffentliche Räume bei, sondern übt zudem einen Anpassungsdruck auf noch bestehende aus. Bedenkenswert wäre, wie man urbane Freiräume neu denken kann, indem man beispielsweise öffentliche Räume herkömmlicher Verwertungslogik entzieht und unter die Regeln gemeinschaftlicher Nutzungsrechte stellt.
Gleichzeitig stellt sich die Frage nach dem Umgang mit den Lebensrisiken, welche die „schöne neue Projektwelt“ mit sich bringt, die z.B. Boltanski und Chiapello konstatierten.[10] Das Gefühl mangelnder Sicherheiten nicht nur bei kreativen Akteuren und die Versuche drohender Altersarmut mit dem Kauf einer Eigentumswohnung, dem Abschluss einer Lebensversicherung, oder der Investition in Aktien zuvorzukommen, führen letztendlich immer wieder zum selben Ort: an die Finanzmärkte und in die Abhängigkeit von einer dem Gemeinwohl fernstehenden Minderheit. Die Fragen nach neuen Sicherheiten und Spielregeln, werden auch die Fragen nach neuen Orten sein, an denen Integrität und Chancengleichheit nicht nur Slogans sind, sondern in einer Geographie der Fairness sichtbar werden. Die Prekarisierung vieler Lebensbereiche hat Renditen erwirtschaftet, welche fast ausschließlich einer kleinen Gruppe Privilegierter zugute kommen und 99% außen vor lassen.[11] Der Finanzsektor manifestiert sich nicht nur in virtuellen Zahlenspielen, sondern unmittelbar in den Städten. Ablesbar ist das beispielsweise am überhitzten, von Fondsgesellschaften kontrollierten Berliner Immobilenmarkt, oder in der spanischen Immobilienkrise. Immerhin schaffen Verfallserscheinungen auch ein Bewusstsein der Emanzipation auf Seiten der Benachteiligten. Unter der Losung “You’ll never own a house in your whole fucking life”[12] äußert sich beispielsweise gegenwärtig in Spanien breiter zivilgesellschaftlicher Protest, welcher der offensichtlich sinnlos gewordenen Form des Besitzes das Selbstbewusstsein von Solidarisierung, Gemeingut und Konsumverzicht entgegensetzt. Hier entsteht ein neues Selbstbewusstsein unter Stadtbewohnern, die sich von Institutionen wie Banken enttäuscht abwenden und die bereit sind, Formen der Selbstorganisation und kleinteilige, genossenschaftliche Lebens- und Organisationsformen zu bevorzugen. In den Städten mehren sich die Anzeichen, dass sich das emanzipierte Wissen um kleinteilige, selbst verantwortete Sozioökonomien immer mehr verdichtet.
Unter den Bedingungen einer voranschreitenden Privatisierung des Öffentlichen besteht gegenwärtig die Tendenz, dass sich urbane Ungleichheiten vergrößern. Der städtische Lebensraum bietet jedoch jenseits ökonomischer Verwertungsmuster Möglichkeiten einer Neubewertung von Gemeinschaft durch gesellschaftliche Aushandlung. In diesem Bereich könnten Akteure wie Künstler und Kulturschaffende einen besonderen Stellenwert erlangen, wenn es darum geht, Gegenmodelle zu entwickeln, die auf lokaler Ebene solidarisches und bürgerschaftliches Engagement zur Gemeinschaftsbildung stärken und durch breite Partizipation zu eigenständigen Lebensräumen beitragen.
Die Projektgruppe REINIGUNGSGESELLSCHAFT arbeitet an einer Zukunft urbaner und gesellschaftlicher Räume, die kollektiver, partizipativer und gemeinwohlorientiert sind. Das schließt prekäre und marginalisierte Gruppen ein und hilft der Mehrheitsgesellschaft, deren Stimme zu hören.
Erstveröffentlichung: Evangelische Akademie Loccum (Hrsg.) „Kreatives Prekariat. Wie lebt es sich von und mit der Kunst“ – Künstler und Kreative in der Stadt- und Quartiersentwicklung. Tagungsband zum Kolloquium. Rehburg-Loccum: 2014
[1] Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung BBR. Bevölkerungsentwicklung in Deutschland 2007 – 2025
[2] Saunders, Doug. Arrival City, Blessing: 2011, S. 40.
[3] Soendermann, Michael. Monitoring zu ausgewählten wirtschaftlichen Eckdaten der Kultur- und Kreativwirtschaft 2011 Herausgeber: Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie, Berlin
[4] Populäre Beispiele sind Park Fiction in Hamburg oder die Prinzessinnengärten in Berlin.
[5] Sennett, Richard. Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität. BVT, Berlin: 2008
[6] z.B. wurde die Cuvrybrache in Kreuzberg in der Presse als Berlins erste Favela beschrieben und dem Protestcamp am Berliner Oranienplatz erste Züge einer Ansiedlung attestiert. (Der Tagesspiegel 15.03. 2014)
[7] Beispiel: Freiraum Elbtal e.V., ein Künstler- und Handwerkerkollektiv mit über 40 Mitgliedern, auf einer 12500qm Industriebrachlandschaft an der Elbe in Dresden ist durch Pläne zur Errichtung einer hochpreisigen Wohnanlage bedroht. Unterstützung aus der Kulturverwaltung, um diese Form gewachsener Kreativwirtschaft verantwortungsvoll zu erhalten, wäre ein starkes Signal.
[8] Das vom niederländischen Künstler Renzo Martens gegründete Institute for Human Activities (IHA) kehrt die übliche Perspektive um und initiierte ein fünfjähriges Gentrifizierungsprogramm 800 Kilometer von Kinshasa, den Kongo flussaufwärts. Ein Bericht über das Projekt findet sich in der in Graz herausgegebenen Zeitschrift Camera Austria International 120 | 2012.
[9] Siehe http://www.opencity.info/ (07.04. 2014) ein freies open source online Spiel
[10] Boltanski, Luc und Chiapello, Ève. Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz, 2003
[11] Der Studie des World Institute for Development Economics Research der Universität der Vereinten Nationen über
Vermögensungleichheit zufolge besitzt das reichste Prozent der Weltbevölkerung 40 % des Weltvermögens.
[12] http://guerrillatranslation.com/2014/01/22/a-call-for-the-world-record-of-people-shouting-youll-never-own-a-house-in-your-whole-fucking-life/ (07.04. 2014)